Zahlen und Fakten zur Abhängigkeit des russischen Staatshaushalts von Öl- und Gaseinnahmen. Die Inte
Hauptquelle: meduza.io, 12. Februar 2016.
Übersetzungen: M. Roth, 13. Februar 2016.
Dass die russische Wirtschaft seit Putins Regierungsantritt 2000 in volkswirtschaftlich absolut unverantwortlichem Maße von der Öl- und Gasförderung abhängt, ist evident und hat sich in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise schmerzlich gerächt (lesen Sie hierzu das von Tamisat.com übersetzte Interview mit dem Ökonomen Wladislaw Inosemzew), bislang fehlten aber verlässliche konkrete Zahlen dazu.
Die russische Internetzeitung „Meduza“, die von Lettland aus operiert, hat nun hochinteressante Daten zum Anteil der Öl- und Gaseinnahmen am Staatshaushalt (russ. bjudžet, im Folgenden „Etat“ genannt) publiziert. Als Quelle nennt sie „das Föderale Schatzamt Russlands, das Finanzministerium und die Regierung Russlands“.
Quelle: meduza.io
„Meduza“ merkt zu den Zahlen folgendes an:
Wir haben den föderalen Etat untersucht und nicht den konsolidierten (d.h. zusammen mit den Etats der Regionen), zumal die Regierung direkt nur für den föderale Etat verantwortlich ist. Die Öl- und Gaseinnahmen im detaillierten Haushaltsplan hat die Regierung selbst vor etwa 10 Jahren in eine gesonderte Gruppe eingeteilt. Sie ergeben sich aus der Steuer auf die Gewinnung von Naturressourcen (NDPI) für Erdöl, Erdgas und Gaskondensat und aus den Ausfuhrzöllen für Rohöl, Erdgas und Erdölprodukte.
Die russische Regierung sieht sich dieser Tage wieder vermehrt mit kritischen Fragen konfrontiert, warum man in 15 Jahren versäumt hat, die Wirtschaft zu diversifizieren. Der russische Premierminister Dmitri Medwedew hat in den vergangenen Wochen mehrmals dazu Stellung genommen und ist aufgetreten, wie er der Welt aus seiner Amtszeit als Präsident bestens in Erinnerung geblieben ist: als demütig-rationales Gegenbild zu Putin.
Was er sagt, klingt im Wesentlichen stets vernünftig, „Meduza“ hat seine Aussagen bezüglich der Öl- und Gaseinnahmen nun einem „Faktencheck“ unterzogen. Anlass waren Aussagen Medwedews, die er am 5. Februar bei einem Treffen mit den Kandidaten für Ober- und Generalrat der Partei „Einiges Russland“ getätigt hat:
Selbstverständlich müssen wir ein starkes Land aufbauen, das auf korrekte Weise auf internationalem Parkett akzeptiert wird, dem man folgt, an das man glaubt, das Autorität genießt. Dabei muss diese Autorität auf unserer wirtschaftlichen und intellektuellen Überlegenheit [russ. preimuščestvo „Vorrang, Vorteil“] begründet sein, und nicht nur auf unseren Verteidigungsmöglichkeiten, auch wenn sie bei uns nicht schwach sind. [...] Wir streben Schritt für Schritt nach [strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft]. Noch vor gar nicht langer Zeit machten die Einnahmen aus fossilen Energieträgern bei uns annähernd 70 Prozent der Etateinnahmen aus [...]. Danach wurden es irgendwo 55 Prozent, jetzt 45 Prozent. [...] Das heißt, wir sind in der Lage, uns ohne [Erdöl] zu ernähren. Wir haben uns ja auch früher ernähren können, als das Erdöl überhaupt kein Exportartikel von uns war. Wir müssen etwas verändern und diese Situation ausnutzen. Ich rufe alle dazu auf. [...] Wenn es diese Schwierigkeiten, auf die wir jetzt gestoßen sind, nicht gegeben hätte, hätte man sie vermutlich erfinden müssen. Selbstverständlich, zurzeit stören uns die tiefen Erdölpreise im Prinzip, aber auf der anderen Seite kann ich, wenn ich mit Regierungskollegen zusammenkomme, ihnen wie jetzt Ihnen in aller Offenheit sagen: wenn die Erdölpreise jetzt auf das frühere Niveau steigen werden – der Mensch hat ja nicht immer den starken Willen, die eigenen Überzeugungen dem wirtschaftlichen Faktor entgegenzusetzen – wird der Preis also wieder 140 [Dollar pro Barrel], so werden sich wieder alle entspannen [...], kann man erneut die verschiedensten Fonds bilden. [...] Deswegen muss man diesen schwierigen Moment unbedingt nutzen und die Struktur der Wirtschaft wirklich verändern. [...] Der Sinn der Importsubstituierungspolitik besteht gerade darin, Produkte und Waren herzustellen, die auf internationalen Märkten konkurrenzfähig sind. Das ist Importsubstituierung [russ. importozamešženie]!
Ähnlich hat sich Medwedew am 11. Februar in einem Interview mit dem deutschen „Handelsblatt“ geäußert (die Übersetzung folgt dem von der russischen Regierung ins Internet gestellten „Stenogramm“ der Unterhaltung). Auf die Frage, welche Schritte Russland unternehmen will, um die Krise im Zusammenhang mit dem Ölpreisfall zu überwinden, antwortete er:
Selbstverständlich leidet der Etat darunter, was soll man da sagen... Aber man muss das auch wieder vergleichend betrachten. Ich denke, dass, als ich in Moskau zu arbeiten begonnen habe, etwa 70-75 Prozent unseres Etats von Öl- und Gaslieferungen abhingen, überdies waren die Preise verhältnismäßig tief. Und jetzt sind es 45 [Prozent], d.h. wir drücken die fossilen Energieträger immerhin aus der Gesamtbilanz der Einnahmen unseres Landes. Das heißt aber nicht, dass wir sie ganz wegdrücken wollen, Gott behüte. Wir haben eine Unmenge von Projekten, unter anderem auch mit Deutschland, und wir werden sie weiterhin verfolgen. Die Wirtschaft muss aber ausgeglichen sein. Das Land ist riesig, es gibt so viele Möglichkeiten!
Eine interessante Zahl [...]: im letzten Jahr hat Russland mit dem Waffenexport annähernd 15 Milliarden Dollar eingenommen. Das ist im Prinzip recht viel, nach den Amerikanern sind wir praktisch der zweitgrößte Exporteur und, wissen Sie, unsere Waffen sind insgesamt nicht schlecht. Aber mit dem Verkauf von Agrarprodukten haben wir 20 Milliarden eingenommen. Wenn mir das jemand vor 12 oder 12 Jahren gesagt hätte, hätte ich es nicht geglaubt. Das bedeutet, das agrare Exportpotenzial ist bei uns höher als dasjenige im Waffenhandel, weil die Welt essen will. [...]
Sie wissen auch, dass der Rubelkurs bei uns derzeit sehr volatil ist, weil er stark vom erwarteten Ölpreis abhängt und die Preise sich ganz auf dem Tiefstpunkt befinden. [...] Deswegen ist unser strategischer Kurs die Diversifikation der Wirtschaft. Ich werde oft gefragt: Sie sind schon so viele Jahre an der Macht und Präsident Putin und Sie arbeiten doch so viel, warum hat sich die Struktur der Wirtschaft nicht verändert? Aber sie kann sich nicht in 15 Jahren verändern, na es ist unmöglich. Sie hat sich in 50-60 Jahren gebildet. So läuft das nicht, umso mehr, wenn wir im Grunde genommen zwei Krisen durchmachen. Diese Struktur verändert sich aber gleichwohl.
„Meduza“ zergliederte Medwedews Aussagen in sechs Thesen, die so gesondert verifiziert bzw. falsifiziert werden konnten:
✔ Der Anteil des Exports fossiler Energieträger an den Etateinnahmen ist in kurzer Zeit wesentlich gesunken.
Das stimmt. Im letzten Jahr wurde ein bedeutender Fall des Anteils der Öl- und Gaseinnahmen im föderalen Etat fixiert.
✘ Er sank im Verlauf der letzten Jahre kontinuierlich.
Das stimmt nicht. In der Regierungszeit der Präsidenten Putin und Medwedew hat sich der Anteil der Öl- und Gaseinnahmen am föderalen Etat einige Male wesentlich verändert: sowohl im Großen als auch im Kleinen.
✘ Der Anteilsrückgang der Öl- und Gaseinnahmen war dank der zielorientierten Politik der Regierung möglich.
Das stimmt nicht. Der Rückgang ging weitgehend auf von den Beamten unabhängige Umstände zurück. Noch im Jahr 2007, als die Öl- und Gaseinnahmen im Etat erstmals gesondert berücksichtigt wurden, hat das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung [russ. Minėkonomrazvitija] die Anteilssenkung der Öl- und Gaseinnahmen einen auf lange Sicht wichtigen Faktoren genannt. Seither hat die Regierung in jedem Dreijahresetat die Kürzung dieses Anteils prognostiziert und ein und dieselben Gründe genannt: die Preissenkung fossiler Energieträger, die Abnahme der Fördermenge und das niedrige Wachstum des Öl- und Gasexports, ebenso die geringe Wachstumsgeschwindigkeit des US-Dollars (in Hinsicht auf die Wachstumsgeschwindigkeit des BIP). Hierbei ist im Erläuterungsbericht zum Etat 2016 die Rede von einem Versuch der Regierung, den Anteil der Öl- und Gaseinnahmen auf Kosten der Steuergesetzgebungsänderung nicht zu verkleinern, sondern zu vergrößern!
✘ „Vor gar nicht langer Zeit“ hatten die Öl- und Gaseinnahmen ungefähr einen Anteil von 70 Prozent an den Etateinnahmen.
Das stimmt nicht. Nimmt man die Zeitspanne von 2000-2015, so haben die Öl- und Gaseinnahmen niemals einen Anteil von 70 Prozent erreicht.
✘ Der Anteil der Öl- und Gaseinnahmen am Etat hat 55 Prozent erreicht.
Das stimmt nicht. Die maximale Bedeutung, die der Anteil der Öl- und Gaseinnahmen im Etat erreicht hat, ist 51,3 Prozent. Dies ist im Jahr 2014 geschehen.
✔ Zurzeit nehmen die Öl- und Gaseinnahmen 45 Prozent der föderalen Etateinnahmen ein.
Das stimmt. Nach der Zwischenwertung für das Jahr 1015 hat der Anteil der Öl- und Gaseinnahmen 44,4 Prozent erreicht. Im Etat des Jahres 2016 ist der Anteil auf 44 Prozent angelegt.
„Meduza“ kommt zu folgendem Schluss:
Dmitri Medwedews Aussage über den Anteil der Öl- und Gaseinnahmen am Etat lässt sich in sechs Thesen unterteilen. Davon sind zwei wahr. Somit ist die Aussage zu 33,3 Prozent richtig.
Am 12. Februar hat sich auch Alexei Nawalny zu den "Meduza"-Zahlen und Medwedews Interview im "Handelsblatt" geäussert:
Die Wahrheit ist, dass niemand mehr für die Verwandlung Russlands in einen „Öl- und Gassklaven“ getan hat als das Zweigespann Putin-Medwedew, sodass man die wirtschaftliche Struktur in 15 Jahren tatsächlich nicht verändern kann, besonders wenn du alles dafür tust, um die Lage als Rohstoffanhängsel zu festigen.
Natürlich sind das fürchterliche Gauner und Lügner. Mindestens seit 2004 tut man überhaupt nichts für strukturelle Reformen in der Wirtschaft, wenn es nur private Futterkrippenattraktionen nach Art von „Skolkowo“ [das russische „Silicon Valley“] gibt. Jetzt hat man aber das Lied „Wir hatten zu wenig Zeit“ angestimmt.