"Das, was derzeit in Syrien passiert, ist Pustekuchen". Ilja Ponomarjow über Putins Umfrag
Das vorliegende Interview ist in der Tageszeitung Holos Ukrajiny („Stimme der Ukraine“, russ. Golos Ukrainy) erschienen. Diese ist das offizielle Presseorgan des ukrainischen Parlaments, wo neu erlassene Gesetze und andere legislative Verlautbarungen des Landes gedruckt werden.
Ilja Ponomarjow (*1975) war seit 2002 Mitglied der Kommunistischen Partei Russlands, verließ diese 2007 im Streit und schloss sich der sozialdemokratischen Partei Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) an. Seit 2007 war er Abgeordneter für die sibirische Metropole Nowosibirsk im russischen Parlament (Staatsduma). Nachdem er im März 2014 als einziger der 450 Duma-Abgeordneten gegen die Annexion der Krim gestimmt hatte, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Sergei Mironow, der damalige Parteivorsitzende, wandte sich damals in einem offenen Brief an den unliebsam gewordenen Ponomarjow:
„Nach Ihrer antipatriotischen Stimmabgabe gegen die Wiedervereinigung der Krim mit Russland geht bei mir eine Vielzahl von Eingaben empörter Wähler ein, die nicht verstehen, warum unsere Partei akzeptiert, dass so ein Mensch bis jetzt Abgeordneter bleibt, und warum wir Sie nicht aus der Duma gejagt haben. [...] Uns von GERECHTES RUSSLAND ist es unangenehm und bitter zu anerkennen, dass wir Sie für einige Jahre in unseren Reihen führten und zwei Mal in die Staatsduma brachten. Deswegen bitte ich nicht, sondern fordere ich Sie heute im Namen aller in unserer Partei auf: hören Sie endlich auf, sich an den Abgeordnetensessel zu klammern! Legen Sie Ihr Mandat nieder!“
(Übersetzung M. Roth)
In der russischen Öffentlichkeit, u.a. im Staatsfernsehen, wurde Ponomarjow als „Nationalverräter“ diffamiert. Im September desselben Jahres kehrte er aus Angst vor Repressionen von einer Auslandreise nicht mehr zurück und lebt seither in den USA und der Ukraine.
Quelle: Quelle: Holos Ukrajiny / Golos Ukrainy, 10. Februar 2016.
Übersetzung: M. Roth, 11. Februar 2016.
[Ivan Kozlovskij:] Ilja Wladimirowitsch, wo wohnen sie zurzeit und wie verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt, falls das kein Geheimnis ist?
[Il’ja Ponomarëv:] Ich wohne hauptsächlich in Flugzeugen verschiedener Airlines – mit Ausnahme von „Aeroflot“... Aber im Ernst: meine offizielle Basis ist in Kalifornien, einen großen Teil der Zeit verbringe ich aber in Kiew und helfe der Ukraine, Investitionen zu akquirieren – vor allem auf dem Gebiet von Energiequellen.
Meinen Lebensunterhalt verdiene ich, indem ich verschiedenen High-Tech-Startups im berüchtigten Kalifornien helfe.
Wenn Sie nach Russland zurückkehren würden – wie lange blieben sie da ihrer Meinung nach in Freiheit?
Die sieben oder acht Minuten, die das Flugzeug nach der Landung benötigt, um zum Terminal zu rollen.
Wenn man das, was in Russland geschieht, von außen betrachtet, erinnert es an die Welt, die Orwell in „1984“ beschrieben hat. Verstehen die anderen Länder, welche Prozesse tatsächlich in Russland vor sich gehen?
Nein, sie verstehen es nicht. Nicht einmal Russland versteht, welche Prozesse in Russland vor sich gehen. Leider ist das analytische Niveau in westlichen Ländern, insbesondere den USA, katastrophal gesunken. Gibt es in Europa generell noch eine minimale Analyse, auch wenn hierbei das russische Geld den Prozess der Beschlussfassung sehr stark beeinflusst, so sind in den Staaten 1992 nach Beendigung des kalten Kriegs alle einfach nachhause gegangen.
Ich bin nicht sicher, was besser ist: die Beschlussfassung von bestochenen Politikern oder die Ausführung schlecht durchdachter Schritte von nicht informierten Leuten. Deswegen bemühe ich mich, so viel wie möglich zu kommunizieren und erzählen, was vor sich geht, warum der Kreml diese oder jene Schritte unternimmt und was das leidgeprüfte russische Volk über dieses Thema denkt.
Gibt es die berüchtigte einmütige Unterstützung Putins in Russland wirklich? Falls ja, woher rührt sie dann?
Ein solches Phänomen wie die Unterstützung Putins gibt es nicht. Es gibt die Unterstützung eines bestimmten außenpolitischen Kurses. Und sie ist objektiv hoch. Die Menschen denken, dass man uns lange Zeit gedemütigt hat: konkret hat uns der Westen ausgeraubt, unter der Flagge der Demokratie einen Exzess von Korruption und sozialer Ungerechtigkeit ins Land gebracht. Deswegen werden alle beliebigen Handlungen, die darauf aus sind, einem westlichen Land eins auszuwischen, vom Volk tatsächlich unterstützt. Es ist eine Kompensation für die 1990er Jahre. Ich denke übrigens, dass das, was in den Neunzigern im Land passiert ist, vor allem die Privatisierung, ein Albtraum und Schrecken ist und die direkte Schuld des Westens darin besteht, dass er in den Augen der russischen Bevölkerung mit der Ungerechtigkeit und dem Elend assoziiert wird. Derzeit wiederholt sich derselbe Fehler in der Ukraine.
Was den Umstand betrifft, dass der Protest sich als in der Figur Putins personifiziert entpuppt hat, so ist das, weil es keine Alternativen gibt. Putin hat gegenüber den russischen Bürgern nie versucht zu beweisen, dass er gut ist. Seine Handlungsweise war immer darauf ausgerichtet zu überzeugen, dass andere schlechter sind. Unter den Bedingungen des Fernsehmonopols funktioniert die ganze innenpolitische Propaganda so. Der Kreml sagt: „Unsere Leute stehlen? Ja, sie stehlen, aber schaut euch Nawalny an, der stiehlt auch!“ – „Wir machen Fehler? Ja. Aber schaut euch die an, die machen überhaupt nichts!“ Kurzum: sie arbeiten nach dem unsterblichen, von Ilf und Petrow besungenen Prinzip „selber Idiot“ [russ. sam durak].
Deswegen haben wir, was wir haben. [Putin] hat wirklich sehr hohe Umfragewerte. Aber ich bin absolut überzeugt, dass, wenn vor den Blicken der Bürger eine Alternative zustande kommt, Putins Umfragewerte mit katastrophaler Schnelligkeit bröckeln. Das Auftauchen dieser Alternative hängt aber sehr stark von der Position der Elite und der Möglichkeit, auf den Fernsehschirm zu kommen, ab. Sobald die Elite sagt, dass es Zeit ist, etwas zu verändern, brauchen sie Putin nicht explizit zu „verraten“, man braucht nicht für jemand anderes zu werben, es reicht, jemand anderes einfach zu zeigen. Darauf endet die Macht Putins höchstwahrscheinlich.
Hat ihrer Meinung nach jetzt, da in Russland die Folgen der Sanktionen spürbar geworden sind, der „Kühlschrank“ das „Die Krim ist unser“ [russ. Krym naš, propagandistisches Schlagwort der russischen Krimpolitik] besiegt? [i.e. eine Abwandlung von „Erst kommt das Fressen und dann die Moral“.]
Ich halte das für eine absolut falsche Antithese, einen Modekurs bei einigen Medien insbesondere liberaler Orientierung. Dass das Volk schlecht und arm lebt, ist wirklich wahr. Dass das Leben noch schlechter und ärmer geworden ist, ist auch wahr. Aber wenn man die Leute fragt: „Wer ist daran schuld?“, antworten sie, dass „Obama, Amerika daran schuld ist“, d.h. jeder beliebige, nur nicht die Regierung der Russischen Föderation und die Leute selbst, die den oben genannten außenpolitischen Kurs „Die Krim ist unser“ unterstützen. Sogar jene, die an der Annexion der Krim Schaden genommen haben, wo eine direkte Ursache-Wirkung-Beziehung zurückzuverfolgen ist, leugnen trotzdem, dass sie wegen der Krim schlecht leben. Niemand will die begangenen Fehler zugeben. Deswegen ist der Kurs einiger oppositioneller Politiker oder westlicher Medien, die ständig auf diesen Punkt pochen, nicht nur irrtümlich, sondern absolut perspektivenlos. Die Menschen müssen nicht sagen: „ihr seid selber schuld“, sondern eine Alternative aufzeigen, dass es anders geht, und es wird besser werden. Dann wird der „Kühlschrank“ eine wichtige Rolle spielen. Solange er aber nur verärgert, brummt er und stört den Schlaf.
Kürzlich haben Sie in einem Ihrer Interviews betont, dass in Russland in jedem Moment ein Krieg beginnen kann. Erklären Sie Ihre These.
Die Wahrscheinlichkeit dafür wächst kontinuierlich, denn je schlimmer es im Land ist, desto radikalere außenpolitische Handlungen werden dafür benötigt, die Aufmerksamkeit abzulenken. Und in diesem Kontext denke ich: das, was jetzt in Syrien passiert, ist Pustekuchen. Der Konflikt mit der Türkei ist absolut nicht zufällig, sondern war vom Kreml erwünscht. Moskau hat ihn gesucht, wollte eine Konfrontation mit einem NATO-Mitgliedsland – um zu zeigen, dass es bei einem Zusammenstoß mit der NATO siegen kann und das Bündnis seine Mitglieder nicht verteidigen wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir Zeugen eines neuen Konflikts werden, ist, denke ich, sehr hoch: vielleicht im Gebiet des Baltikums, vielleicht wird es eine weitere Eskalation in Asien sein, auch wenn ich die Wahrscheinlichkeit für einen baltische Kurs, insbesondere auf Litauen, höher einschätze.
Das heißt, Russland wird einen erneuten Krieg beginnen?
Es wird den russischen Bürgern natürlich nicht so präsentiert werden, dass wir den Krieg begonnen haben, sondern so, dass wir ein weiteres Mal jemandem zu Hilfe gekommen sind – es wird aber selbstverständlich unsere Aggression sein.
Halten Sie in diesem Kontext eine weitere Eskalationswendung des bewaffneten Konflikts in der Ukraine für möglich?
Ich denke, dass in unseren Ländern [er meint Russland und die Ukraine] alles möglich ist. Ich denke aber, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sinkt, weil der Kreml beschlossen hat, sich aus dem Donbass zurückzuziehen. Ein militärischer Sieg ist dort nicht möglich und die Leute sind diesen Konflikt bereits leid. Putin wird es einfach wichtig sein, es so zu bewerkstelligen, dass niemand in Russland sagt, wir hätten verloren. In den Augen der Bevölkerung müssen wir gewinnen. De facto tut der Kreml aber bereits jetzt alles, um von dort wegzukommen.
Sind diese Handlungen geplant oder situativ?
Der Kreml handelt immer situativ. Putin ist aus Überzeugung Taktiker und kein Stratege. Eine konkrete Strategie gibt es gleichwohl: sie besteht darin, den Ukrainern die Möglichkeit zu geben, selbst alle Fehler zu machen, damit sie in den Augen der Welt als randseitig wahrgenommen werden. [In Russland wird gerne Ukrajna statt Ukraina gesprochen, womit die etymologische Herkunft des Toponyms von kraj „Rand, Grenze“ betont wird.] Solange diese Strategie funktioniert, bricht die ukrainische Wirtschaft leider zusammen und die Minsker Abkommen werden nicht eingehalten.
Das heißt, Moskau hat keinen Plan für einen Abzug aus dem Donbass?
Doch. Er beinhaltet, die Hilfe für die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk allmählich auszusetzen und die Ukraine faktisch zu zwingen, den Donbass für den Unterhalt zu sich zu nehmen. Die Ukraine hat daran aber tatsächlich kein sehr großes Interesse – weil zurzeit sowohl die russische Führung einen Anlass hat, der Bevölkerung zu sagen: „Nicht wir sind die Idioten, sondern Obama, der Drecksack mit den Sanktionen“, aber auch die ukrainische Führung nach Belieben behaupten kann: „Wir sind gar nicht in der Lage, Reformen durchzuführen, es herrscht schließlich Krieg, deswegen ist alles so schlecht.“ Wenn es keinen Krieg mehr gibt, wird sich die ganze Kritik an die handelnde Staatsmacht wenden. Plus: wenn der Konflikt beigelegt wird, muss jemand den Wiederaufbau des zerstörten Donbass’ bezahlen und es wird kaum gelingen, Reparationen aus Russland zu erhalten. Ich persönlich habe keinerlei Zweifel daran, dass die internationale Gemeinschaft, die jetzt mannigfaltige Hilfe verspricht, kaum etwas geben wird. Und wenn sie etwas gibt, so unter derartigen Bedingungen und so langsam, dass in dem Moment, da die Hilfe kommt, diese sinnlos ist. Es ist zum Beispiel bekannt, dass von der Milliarden-Hilfe, die die Weltbank der Ukraine bereitgestellt hat, im Jahr 2015 100 Millionen verwendet wurden – 10% des Gesamtvolumens.
[Diese Rechnung geht nicht ganz auf: schließlich war 2014 und 2015 stets von 2-3 Milliarden Dollar die Rede, die die Weltbank beisteuern soll. Dieses Geld war Teil eines großangelegten Hilfspakets der internationalen Gemeinschaft in Höhe von ca. 40 Milliarden Dollar. Allein der IWF stellte 2015 17,5 Milliarden Dollar zur Verfügung.]
Denken Sie, Moskau wird einmal freiwillig einer Deokkupation der Krim zustimmen?
Das gegenwärtige Regime nicht. Mit jenen, die danach kommen, wird man aber sprechen müssen. Würde ich das Oberhaupt des Lands, würde ich zuerst demilitarisieren und mich dann in Ruhe über die Vorgehensweise bei der Beilegung des Ukrainekonflikts einigen. Auf jeden Fall müssen die Leute, die auf dem Territorium der Krim leben, selbst über ihr Schicksal entscheiden – so, dass dieser Entscheid im Rahmen des internationalen Rechts legitim ist und vor allem von der Ukraine anerkannt wird, zu der die Krim zurzeit bedingungslos gehört.