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Dmitri Bykow: Ein Jahr der Makulatur

Quelle: Sobesednik.ru, 28. Dezember 2015.

Übersetzung: M. Roth, Januar 2015.

Grundsätzlich gibt es ein „Literaturjahr“, ein Kulturministerium auch, Verlage verlegen, Preise werden überreicht, nur etwas fehlt – eine Literatur im eigentlichen Sinne. Und ihr mögt noch so viel darüber reden, dass „ einzelne Schriftsteller versuchen, eine persönliche Schaffenskrise als Tendenz auszugeben“, – heutzutage lassen selbst die optimistischsten Kritiker traurig die Köpfe hängen: das Jahr hat keinen großen Eindruck hinterlassen. Verzeiht, was heut euch denn beeindruckt? Man kann sich überlegen, ob in den Neunzigern – als der Gestank auch genügte, nur war er anders – in der Literatur etwas Bedeutendes geschaffen worden ist. Was hat die ganzen Neunziger unbeschadet überstanden außer einigen Büchern von Pelewin [z.B. „Generation P“, 1999], über die alle geschimpft haben? Wer erinnert sich an etwas aus dem [Russischen] Booker-Preis, der ständig den schlechtesten Text aus der Liste auszeichnet hat, wenn nur alle erstaunt waren?

Für Literatur braucht es einen Leser, der fähig ist, nicht nur die oberste Schicht herauszulesen – einen klugen und einfühlsamen Leser und Gesprächspartner. Ohne ihn ist alle Mühe umsonst. Für Literatur braucht es einen Kritiker und Interpreten und keinen Werbevertreter. Für Literatur braucht es feste sittliche Koordinaten, ohne die du nichts schreibst, denn wo es keine Wertehierarchie gibt, gibt es auch keinen Begriff von Qualität. Die Hauptsache ist aber, dass es für Literatur ein anderes Klima braucht, eine andere Gesellschaft: die Literatur lebt schließlich nicht unter allen Umständen.

Das gab es bei uns schon einmal und nicht nur ein Mal: es gab die 1940er Jahre, aber damals konnte man wenigstens alles mit der Diktatur des alternden Stalin erklären. Nun gut, es gab die 1840er, als von Lermontows Tod [1841] bis zu Nikolaus’ Tod [1855] in der Literatur überhaupt nichts Interessantes geschah, wenn man von der Anthologie „Petersburgs Physiologie“ [1845] absieht, die auch heute nicht sonderlich gelesen wird; Dostojewski dämmerte auf – und kam gleich nach Sibirien. [1849 wurde Dostojewski nach Omsk verbannt. Erst 10 Jahre später konnte er nach Sankt Petersburg zurückkehren.] Repressalien gab es nicht sonderlich viele, der Wohlstand sucht seinesgleichen, nur zu atmen gab es nichts. Der durchgängige Gestank des Denunziantentums und des offiziellen Patriotismus muffelt dazu noch nach Verbranntem: Gogol verbrennt die „Toten Seelen“. Wie man sich im Internet ausdrückt: afftar žžot [inkorrekte Schreibweise für: avtor žžet „der Autor verbrennt“].

Heutzutage verbrennt auch irgendjemand irgendetwas, aber das ist ein historischer Fakt und kein literarischer. Was fast schon Texte im eigentlichen Sinne, ihnen sogar sehr ähnlich sind – worüber soll man da schreiben, was wäre denn ein Sujet für einen Roman: Neurussland? Aber wenn auch so ein Roman den Schriftsteller notgedrungen zu außerordentlich bitteren Schlussfolgerungen hinreißen sollte – wer wagt diese heute noch? Vermutlich werden wir die ganze Wahrheit über das heutige Russland lesen, aber sie wird in einem anderen Russland gesagt werden, wenn die notwendige Blickhöhe erreicht sein wird. Zurzeit, von der heutigen Zeit aus können wir so eine Höhe nicht in Anspruch nehmen: da ist nichts zu machen, das Tote muss verfaulen.


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