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"Wie beim Untergang des Römischen Reichs" - Wladislaw Inosemzew über die politische und wi

Zum Auftakt des Jahres 2016 hat der rennommierte russische Ökonom Wladislaw Inosemzew mehrere Interviews über die Zukunft seines Landes gegeben. Tamisdat.com stellt Auszüge aus zwei Gesprächen in deutscher Übersetzung vor.

Übersetzung: M. Roth, Januar 2016.

Interview mit Radio Swoboda

1. Januar 2016 (noch 2015 geführt).

[Wladislaw Inosemzew:] Das Gerede, dass das Regime sich zum Untergang neigt... Es neigt sich, aber das ist wie beim Untergang des Römischen Reichs, der sich über hunderte Jahre hinweg erstreckt hat: Ich denke, wir werden auch die Jahre 2016 und 2018 vollkommen ruhig durchschreiten und was ferner kommen wird, ist noch nicht ersichtlich. [...] Ich denke, in der Wirtschaft werden wir eine Fortsetzung der gegenwärtigen Tendenzen sehen: Angriff auf die Geschäfte, Versuche, die Steuern zu erhöhen, härtere Regulierung von allem und jedem – und als Folge weitere Rezession. Im Gegensatz zu dem, was viele sagen, denke ich nicht, dass sie sehr radikal ausfallen wird: nur eine weitere Rezession von 2,5 bis 4 Prozent im Jahr. Ich denke, dass das ein weitaus realistischeres Szenario für das nächste Jahr sein wird: die Fortsetzung der Rezession, die Verschlechterung des Klimas für Unternehmen, die Dominanz der Politik in der Wirtschaft. Das, was wir dieses Jahr gesehen haben, wird es auch weiterhin geben. Ich sehe aber kein Katastrophenszenario. Dieses ganze System ist sehr belastbar und wird mit verschiedenen Erfolgsstufen noch viele Jahre lang bestehen, da bin ich mir sicher.

[Walentin Baryschnikow:] Es gibt Gerüchte, dass der ehemalige Finanzminister Alexei Kudrin zurück an die Macht kommen könnte. Könnte die Macht versuchen, die Maßnahmen gegen die gesellschaftlichen Proteste zu verschärfen und gleichzeitig etwas in der Wirtschaft zu liberalisieren?

Ich befürworte Herrn Kudrin sehr, aber eine derart verstärkte Aufmerksamkeit auf einzelne Kaderentscheide scheint mir stark übertrieben. Das System besteht aus einer Vielzahl von Interessenten. Sie alle, die erste Person miteingeschlossen, füllen sich heute ausschließlich die Taschen und wir sehen das bei vielen Entscheiden. Systemvarianten als Ausweg aus der Krise kommen nicht in Betracht. Das Beamtentum und die Geheimdienstler und Militärs sind als geeinter Block so stark, dass, wenn Kudrin auftauchen sollte, vielleicht einzelne Entscheide gefällt würden, die das ein oder andere ansatzweise verbessern würden, aber dass das Auftauchen von Herrn Kudrin den Kurs radikal ändern kann, würde ich nicht sagen. Das kann das bestehende System gewiss hinauszögern. Eigentlich war Kudrin der Initiator all jener Reformen, die im Grunde genommen zur gegenwärtigen Situation geführt haben. Wer, wenn nicht Kudrin, hat alle Regionen wie Zitronen ausgepresst und das Budget auf föderaler Ebene zentralisiert? Er hat den Rücklagenfonds gegründet. Im Grunde genommen benutzen die Behörden zurzeit sowohl Kudrins Know-How als auch das zentralisierte Budget und den Rücklagenfonds erfolgreich. Na und jetzt kommt er zurück und Sie glauben, dass sogleich der Liberalismus anbricht?

Das heißt, Putin kann zurzeit überhaupt nichts unternehmen, weil das System von grandioser Trägheit ist...

Nein-nein, Putin kann faktisch alles unternehmen! Er wird das aber nicht tun. Weil er dieses System gegründet hat und dieses System absolut putinistisch ist und jedes beliebige Problem dieses Systems auf Putin zurückgeht und nicht umgekehrt. Man braucht mir nicht zu erzählen, dass wir einen guten Präsidenten und schlechte Minister hätten. Der schlechteste Mensch in der russischen Regierung ist Wladimir Wladimirowitsch Putin! Der inkompetenteste und auf die vollständige Degradierung aller Institutionen bedacht.

Gibt es vielleicht ein Abkommen innerhalb der Elite und kann er deswegen faktisch nichts in der Wirtschaft ändern?

Nein, ich unterstütze diesen Standpunkt nicht. Vielleicht gibt es irgendein Abkommen, aber ich wiederhole es noch einmal: Putin kann alles, was er für nötig hält, ändern, aber er hält es einfach nicht für notwendig, das zu tun. Die Wirtschaft interessiert ihn überhaupt nicht! Er hält sich in der Außenpolitik für einen neuen Stalin – eine neue Weltordnung, ein Aufteilung in Blöcke, neue Einflusszonen in Europa... mehr als das interessiert diesen Menschen derzeit überhaupt nicht!

Aber die letzten Mitteilungen, dass Putin sich Sorgen um die Wirtschaft mache, Putin sich mit den Ministern treffe...

Haben Sie denn Beweise dafür, dass er sich Sorgen um sie macht?

Na, die „Bloomberg“-Agentur hat unter Bezugnahme auf ihre Quellen mitgeteilt, dass der Präsident beunruhigt sei und sich in den letzten Monaten einige Male mit seinen Beratern getroffen habe, um den Fall des Lebensstandards im Land zu besprechen.

Wissen sie, das ist wie bei Napoleon, der während der Kampagne 1812 angeordnet hat, das Licht in seinem Zelt oder dem Haus, wo er sich einquartiert hat, nicht zu löschen, damit die Armee glaube, der Empereur denke ständig an sie. Ich denke, dass diese rituellen Erklärungen Putins, dass er sich Sorgen um die Wirtschaft mache und sich mit den Ministern treffe, genau diesem Zweck dienen.

Beunruhigt ihn die Möglichkeit sozialer Proteste als Resultat des Falls des Lebensstandards der Menschen überhaupt nicht?

Ich denke, es beunruhigt ihn nicht. Und ich stimme darin mit ihm überein, weil ich keinen Anlass für soziale Proteste sehe. Das Volk ist zu passiv. [...] Es scheint mir, dass es sich nicht lohnt, auf Proteste auf wirtschaftlicher Grundlage zu warten – weil sich in Russland die Tradition etabliert hat (keine sehr gute wahrscheinlich, aber sie hat sich etabliert), wirtschaftliche Probleme als objektiv zu akzeptieren. Das heißt: Wenn es bei dir in der Kuschtschowka irgendeinen Zapok gibt, der Menschen tötet, verstehest du, dass es einen Zapok gibt, gegen denn man auf die Straße treten und Putin sagen kann: „Schaffen Sie Zapok weg!“ Wenn bei dir aber die Ölpreise fallen, gegen wen willst du dann protestieren? Putin ist schließlich unschuldig, dass der Preis fällt. Hier braucht es Überlebensstrategien, man muss sich um eine neue Arbeit kümmern, weniger Steuern zahlen, sich irgendwo nebenbei etwas dazuverdienen, sich wirtschaftliche Möglichkeiten ausdenken. Und das geschieht auf privater Ebene. Rationale Menschen – und ich halte unser Volk für sehr rational – werden danach streben, zu überleben, und nicht versuchen, auf der Grundlage dessen, dass eine Inflation im Anmarsch ist, zu protestieren.

[...]

Das heißt, es gibt keine Gefahr, dass das Volk die Krise irgendwie mit Wladimir Putin personifiziert und vor den Fenstern des Kreml aufmarschiert?

Null Wahrscheinlichkeit!

Gut. Sie sagen, dass es Putin an Geld fehlt und das heißt, dass er bei seinem ganzen System Schulden hat?

Nein-nein, er schuldet niemandem etwas. Ich denke nicht, dass es da formelle Verbindlichkeiten gibt. Das Problem besteht einfach darin, dass Putin über all diese Jahre an eine bestimmte Leichtigkeit in der Anordnung von Geld gewöhnt war und diese Leichtigkeit ein Teil seiner Lebensart geworden ist, das heißt: „wir können alles“: eine Olympiade für 50 Milliarden – kein Problem, die Insel Russki – keine Fragen, die Renten erhöhen, die Armee aufrüsten – bitte schön. Jetzt wird es damit aber problematisch und in diesem Fall macht ihm die Wirtschaftsfrage nicht dahingehend Sorgen, dass die Arbeitslosigkeit gestiegen ist oder die Löhne in der Bevölkerung gesunken sind, sondern nur: „Ich kann jetzt nicht soviel Geld aufschreiben, wie ich gerne möchte, rechts und links, wie ich es früher immer getan habe.“

Ihn muss der Wirtschaftszustand doch dahingehend beunruhigen, dass er sich auf eine kostspielige Kriegsoperation eingelassen hat und die Armee aufrüstet.

Kommen Sie, seien wir konkreter: er ist um das Budget besorgt. Dass es in der Budgettabelle keinen Platz mehr für neue Spalten haben sollte, macht ihm, wie mir scheint, keinerlei Sorgen.

Kann die Krise, falls sie sich in diesem Maße weiterentwickelt, nicht den sozialen Verbindlichkeiten, die als erste gekürzt werden, oder gar Putins Möglichkeiten in der Außenpolitik nicht einen Strich durch die Rechnung machen? Beispielsweise könnte sie dazu führen, dass das Geld für die Operation in Syrien, die Aufrüstung der Flotte, der Armee und für die Flugzeuge nicht reicht. Oder hat er dafür immer genug Geld?

Ich danke, dass das Geld völlig ausreicht. Na, was ist beispielsweise dieser Krieg in Syrien? Die Kosten dieses Krieges entsprechen denjenigen einiger mittelgroßer Militärübungen. Man darf die Ausgaben nicht überbewerten. Dafür reicht das Geld völlig. Ja, die Aufrüstung der Armee kann sich hinziehen, aber dieser Prozess ist bis 2020 berechnet. [...] Natürlich, sie sagen richtig, dass die Situation schwieriger werden wird, aber meines Erachtens ist die Frage zur Zeit ausschließlich: wie schnell wird die Situation schwieriger werden und welche Folgen wird das zeitigen? Ich denke, dass sie nicht schnell schwieriger werden wird.

Putin wird die Logik unterstellt, dass er versucht, die Aufmerksamkeit von wirtschaftlichen Problemen mit schillernden außenpolitischen Aktionen abzulenken, und diese Aktionen immer häufiger kommen. Müssen wir erwarten, dass sie fortgeführt werden? Oder weist jetzt etwas Putin in die Schranken?

Das ist eine Frage, auf die ich keine Antwort habe. Wie können wir wissen, was einen Menschen in die Schranken weist, der sich für absolut allmächtig hält? Ich weiß es nicht.

Er hält sich für allmächtig?

Ich denke, dass er sich schon längst auf dem Niveau eines solchen inadäquaten Bewusstseins befindet.

Aber etwas weist ihn vermutlich in die Schranken. Er hat zum Beispiel die Operation in der Ostukraine eingestellt und viele denken sogar, dass er sich von dort zurückziehen wird.

Ihn weisen nur die Möglichkeiten einer Gegengewalthandlung in die Schranken, d.h.: Wenn man ihm deutlich macht, dass NATO-Truppen in der Ukraine stationiert werden, falls er Mariupol einnimmt, hält ihn das davon ab. Ich denke, dass Putin ein fundamental rationaler Mensch ist. Er bewertet die Sachlage sehr gut und handelt genau in dem Moment, wenn ihm die Möglichkeit gegeben wird, nach Vorne zu handeln, und das gelingt im sehr gut. Wenn er aber versteht, dass vor ihm eine Betonwand steht, macht er Halt. Dabei braucht es dafür eine konkrete Person, einen Staat oder ein Handlungssystem. Das heißt, wenn ihn Obama anruft oder Kerry kommt und sagt, dass etwas „so und so sein wird, wenn Sie das und das tun werden“, dringt das zu ihm durch. Falls man von wirtschaftlichen Problemen spricht, wenn die Ölpreise fallen – angeblich objektiv und vielleicht durch eine Verschwörung, wie ihm scheint – dann dringt es weitaus langsamer durch.

Seine Handlungen verschlechtern die Wirtschaftslage, aber hinderliche Dinge existieren für ihn nicht, es existieren nur Macht und die Androhung der Machtanwendung?

Ich kann mich irren, aber es scheint mir annähernd so zu sein. Es scheint mir, dass für Putin das Volk und dessen Verhältnisse überhaupt kein Faktor ist. Schauen Sie, auf die Situation, die sich in der Türkei ergeben hat, musste man irgendwie reagieren. Ich an Putins Stelle hätte den „Blauen Strom“ augenblicklich geschlossen und die Türkei wäre in eine sehr schwierige Lage geraten. Putin will aber „Gasprom“ nicht mit der Einschränkung von Lieferungen in die Türkei bestrafen, er versetzt lieber alle Rentner, die keine Früchte und Gemüse mehr kaufen können, in eine unangenehme Lage. Das Volk ist eine Art Pöbel, der herumrennt und das Leben stört, „Gasprom“ aber ist wichtig.

Das heißt, die Logik, die ihm häufig unterstellt wird, existiert gar nicht: die Aufmerksamkeit des Volkes mithilfe außenpolitischer Aktionen abzulenken?

Hören Sie, wenn du eine Unterstützung von 85 Prozent hast, welche Aufmerksamkeit willst du dann noch ablenken? Willst du 140 Prozent? Ganz zu schweigen davon, dass ihn seine Berater über die Stimmung im Volk unterrichten, sogar objektiv ist diese Stimmung absolut proputinisch. Wozu soll man dann noch in die Erhöhung seiner Popularität investieren?

[...]

Gut, Putin hat nicht vor, etwas zu verändern. Haben Sie aber eine Vorstellung davon, was er will, was er anstrebt?

Es scheint mir, dass Putin als derjenige in Erinnerung bleiben will, der nach Russland gekommen ist, als das Land zugrunde gerichtet und gedemütigt war, und erst dann gehen oder sein Leben beenden will, wenn es eine starke Weltmacht ist. Für ihn ist das das Allerwichtigste! Er will die Sowjetunion vielleicht nicht wiederherstellen, aber den politischen Einfluss Russlands auf einem quasisowetischen Niveau wiederherstellen: dass der postsowjetische Raum ganz seine Einflusszone ist, dass die Amerikaner und Europäer mit Russland auf Augenhöhe sprechen und so weiter und so fort. Ich denke, dass es für ihn derzeit genau dieses Megaprojekt einer geopolitischen Renaissance das Allerwichtigste ist. Und danach strebt er vielleicht nicht sehr erfolgreich.

Er versteht aber, dass er in den vergangenen zwei Jahren in Tat und Wahrheit genau das Gegenteil erreicht hat?

Nein. Warum sollte er das auch verstehen? Sie sehen ja, wie viele Menschen jede Woche nach Moskau und Sotschi fliegen: Außenminister, der französische Präsident, Könige vorderasiatischer Länder. Er glaubt, dass er der Nabel der Welt sei! In der „Times“ war er [2007] „Person of the Year“. In jedem beliebigen Rating führender Politiker ist er die wichtigste politische Figur der Welt. Was hat er nicht erreicht?

[...]

Wenn Sie davon sprechen, dass die Wirtschaft auf nichts Katastrophales hindeutet, heißt das, dass Putin auf seinem Posten seelenruhig bis zum Ende dieser Amtszeit verharren, eine weitere antreten und bis zum Ende der folgenden bleiben kann?

Ich habe mehrfach geschrieben, dass Putin bis ans Ende seines Leben (wann auch immer es zu Ende geht) an der Spitze der Russischen Föderation stehen wird. Das war meiner Meinung nach von allem Anfang an offensichtlich.

Und am Horizont ist nichts in Sicht, das ihn davon abhalten könnte?

Ich sehe nichts.

Interview mit der Internetzeitung Znak.com

21. Januar 2016.

[Jewgeni Senschin:] Das Jahr 2016 hat für die Börse in China und den USA mit einem Einbruch begonnen, der Ölpreis sinkt heftig. Ist das eine neue Welle einer Weltwirtschaftskrise?

Das sind alles wichtige die Weltwirtschaft beeinflussende Faktoren, aber sie tragen alle einen ausschließlich lokalen oder branchenspezifischen Charakter. Eine globale, weltweite Krise sehe ich noch nicht. Die derzeitige Situation ist mit der Situation von 1997 in Asien vergleichbar. Damals hatten wir es mit einer lokalen Krise zu tun, die in Amerika und Europa bestimmte Erschütterungen zur Folge hatte – aber ausschließlich auf dem Aktienmarkt. Die US-Wirtschaft ist Ende der 1990er gleichwohl gewachsen – bis zu der Zeit, wo mit den „Dotcoms“ verbundene Probleme aufgetaucht sind. Deswegen hat sich die Krise von 1997 praktisch nicht auf Amerika ausgewirkt. Sie hat die Ölpreise und Russland betroffen und Schuldnerverzüge unter den lateinamerikanischen Staaten zur Folge gehabt. Heute sehen wir dasselbe wie damals. Es handelt sich um Probleme in der Peripherie und nicht im Zentrum der Weltwirtschaft.

Dann lassen Sie uns über die Peripherie sprechen. Uns, die wir in Russland leben, beunruhigen vor allem die Ölpreise, weil der Wohlstand unserer Gesellschaft von ihnen abhängt. Was wird mit ihnen geschehen, an welchem Punkt werden sie haltmachen?

Ich vermute, dass sie unter 25 Dollar pro Barrel fallen, sich danach aber für längere Zeit (nicht weniger als ein Jahr) in einem Bereich von 25 bis 35 Dollar stabilisieren werden. Für eine längere Zeitperiode lässt sich derzeit keine Prognose erstellen.

Und was wird mit dem Rubel geschehen? In den letzten Tagen stellt er einen Negativrekord um den anderen auf.

Ich denke, dass der Rubelkurs in diesem Jahr auf 100 Rubel pro Dollar fallen wird. [Zurzeit befindet er sich bei ca. 78.] Dabei liegt das nicht einmal so sehr am Öl, sondern daran, dass die Regierung sehr viele Verbindlichkeiten eingegangen ist und diese erfüllen muss. Die Budgetverbindlichkeiten sind in Rubel nominiert, die Ölzahlungen aber in Dollar. Je höher also der Dollarkurs ist, desto einfacher wird es für die Landesregierung, das Budget zusammenzubringen, d.h. sie wird an einem tiefen Rubelkurs interessiert sein.

In den letzten Tagen wird die Verhängung von Sanktionen gegen den Iran und dessen Pläne, Europa und Asien mit seinem billigen Öl zu „ertränken“, heftig diskutiert. Ist das schlimm für die russische Ölbranche bzw. für die russische Wirtschaft insgesamt?

Nein. Wenn die Sanktionen bei Ölpreisen von etwa 50 Dollar pro Barrel verhängt würden, würde dieses Ereignis den Markt stark beeindrucken. Jetzt sind die Preise nahe am Minimum, die Folgen der Verhängung von Sanktionen sind in ihnen bereits „miteingeschlossen“.

Europa ist der Hauptmarkt für den Verkauf unseres Gases und Erdöls. Außer dem Iran betrachten beispielsweise auch Katar und die USA den europäische Markt als einen Leckerbissen. Worauf müssen wir uns dort gefasst machen?

Der Hauptkonkurrent Russlands für den Gasverkauf auf dem europäischen Markt sind weder Katar noch der Iran, sondern die alternativen Energiequellen. Wir sehen, dass Deutschland bereits 2015 über mehrere Tage in einem Modus gelebt hat, wo Wind- und Sonnenergie mehr als die Hälfte des Bedarfs gedeckt haben. Jene Entschlüsse, die von den Großmächten auf der UN-Klimakonferenz in Paris Ende vergangenen Jahres getroffen worden sind, weisen riesige Kapitalinvestitionen an, die in die alternative Energieversorgung fließen werden. Um sie müssen wir uns Sorgen machen.

Bei RosBusinessConsulting wurde ein hervorragender Artikel von Anatole Kaletsky, dem Vorsitzenden des „Institute for New Economic Thinking“ veröffentlicht, wo die Rede davon ist, dass das Ende der Ölära naht. Das ist natürlich ein wenig übertrieben, aber im Prinzip ist der Trend richtig bezeichnet: dass die hauptsächliche Bedrohung für unsere Öl- und Gasgesellschaften nämlich nicht von ausländischen Konkurrenten, sondern von neuen Energietechnologien ausgeht.

Derzeit ist Sonnenenergie dem Preis nach vergleichbar mit Energie, welche aus fossilen Brennstoffen gewonnen wird.

Wenn wir aber zum Thema unserer Feinde auf dem Öl- und Gasmarkt zurückkommen, so ist das in erster Linie natürlich Katar. Katar entwickelt seinen Export nach Europa sehr erfolgreich. Weil der heutige Markt ein Markt flexibler Lieferungen ist und Flüssigerdgas auch weiterhin die russischen Positionen schwächen wird. Was die Amerikaner anbelangt, so denke ich, dass man sich darüber überhaupt keine Gedanken machen muss. Der amerikanische Öl- und Gasexport nach Europa wird auf ein Minimum beschränkt bleiben. Die Amerikaner werden uns niemals aus dem europäischen Markt verdrängen – einfach weil der amerikanische Markt eigenständig ist.

[...]

Europa lässt sich Zeit, Sanktionen gegen Russland zu beschließen. Können die Sanktionen die russische Führung zwingen, die europäischen Spielregeln zu akzeptieren und sich wieder nach Europa zu wenden?

Was die Frage betrifft, ob die Sanktionen die russische Führung zwingen können oder nicht zwingen können, etwas entgegen den eigenen Willen zu tun, so können sie das natürlich nicht. Die Führung versteht, dass das nicht die Hauptsache ist. Die Europäer werden sie ohnehin streichen, weil sie keine großen Konfrontationen mögen. Sie brauchen diese Sanktionen ehrlich gesagt nicht einfach so. Wenn in der heutigen Welt die eine Seite über die andere herfällt, ist es einfach unmöglich, keine Antwort zu geben. Die Europäer konnten keinen Krieg mit Russland führen, aber sie mussten irgendwie antworten und haben deswegen Sanktionen eingeführt.

Aber selbst wenn die Sanktionen aufrechterhalten werden, wird sich kaum etwas verändern. Die Sanktionen sind ein wichtiger und ernstzunehmender Faktor und sie schwächen unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten zweifellos, aber das ist nicht die Hauptsache in unserer Situation. Es ist europäischen Banken jetzt verboten, russischen Unternehmen Kredite zu gewähren, aber das bedeutet nicht, dass die europäischen Banken nach der Aufhebung der Sanktionen mit Krediten nach Russland rennen werden. In der Zwischenzeit haben sie sich hervorragend auf neue Märkte umorientiert – umso mehr, da der Preis unserer wichtigsten Ressource, des Öls, um das Dreifache gefallen ist. Und wo sind Vorteile unserer Wirtschaft, die ausländischen Geschäfte akquirieren könnten? Die gibt es einfach nicht! Das ist das Erste. Zweitens bremsen uns keineswegs die Sanktionen in der Entwicklung, sondern die Versuche, eigenes Unternehmertum zu unterbinden. Alle sind sich der Risiken der Arbeit in Russland schon längst bewusst geworden. Im Allgemeinen ändert die Verabschiedung von Sanktionen prinzipiell nichts.

Mit dem Krim-Referendum und der Unterstützung der „Bürgerwehr“ in der Ukraine hat die russische Herrschaftsgruppe dem Westen bewiesen, dass Russland sich hierdurch „von den Knien erhoben“ und begonnen hat, in der Welt eine entscheidende geopolitische Rolle zu spielen. Sie sind oft in den USA. Sagen Sie, wie verhalten sich die USA dazu? Ist es Putin gelungen, „Kuskas Mutter“ zu zeigen? [idiomatisch für: jdm. eine Lektion erteilen] Wie sehr interessiert sich Amerika für Russland und in welchem Maß?

Ich kann eine einzige einfache Sache sagen: In den letzten eineinhalb Monaten habe ich viele amerikanische Russisten getroffen und das Erste, was sie mir nach den Begrüßungsworten und der Kaffeebestellung sagen, ist, dass bei ihnen alle Fonds gemäß russischen Studien „abgeschnitten“ worden sind, das braucht kein Mensch. Ich höre das von vielen Leuten. Da haben Sie die Antwort, wie sehr sich die USA heute für Russland interessieren.

Aber als Gegengewicht zu China können wir interessant für Amerika sein?

Was für ein Gegengewicht kann Russland zu China sein? Die russische Wirtschaft jenseits des Ural hat ein BIP, das in etwa ein bisschen größer als dasjenige von Vietnam ist. Dabei war die vietnamesische Wirtschaft vor drei Jahren Fünftletzter unter allen asiatischen Wirtschaften. Das ist unser Potenzial im Osten. Die Frage liegt auf der Hand: Was für ein Gegengewicht kann der Osten zu China bilden? Als Hillary Clinton (damals noch Außenministerin) vor vier Jahren ihren berühmten Artikel über den Pazifik [i.e. „America’s Pacific Century“, 2011] geschrieben hat, hat sie Russland überhaupt nicht erwähnt. Sie ist alle Pazifikländer hinsichtlich der Frage durchgegangen, auf welche Weise Amerika Beziehungen zu ihnen errichten soll: wer Rivale, wer Konkurrent ist – Russland befand sich aber nicht unter ihnen. Das widerspiegelt unseren Platz in der Welt reell, auch wenn man uns als „Troublemakers“, d.h. als Problemverursacher, natürlich Beachtung schenkt. Niemand lässt Russland außer Acht, aber alle sind auf der Hut vor dem Land. Glauben Sie mir, auf dieser Grundlage schickt sich überhaupt niemand an, sich mit uns anzufreunden.

Und hinsichtlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus, gegen den „Islamischen Staat“?

Als zurechnungsfähige Menschen sind die Europäer natürlich bereit, mit Russland im Kampf gegen den Terrorismus zusammenzuarbeiten. Falls vorgeschlagen werden sollte, ein geeintes Bodenkontingent für den Kampf gegen ISIS zu gründen, so wären alle dafür. Wir wollen das aber gar nicht tun. Wir wollen dorthin fliegen und schießen, wohin Assad uns schickt. Die Europäer zu zwingen, Assad zu mögen, ist aber aus verschiedenen Gründen unmöglich. Was kann es dort also für eine Koalition im Kampf gegen den Terrorismus geben?

Was die geopolitische Rolle Russland anbelangt, so ist unser Land, wie Obama kürzlich richtig gesagt hat, ein regionaler Akteur [„regional power“, März 2014]. Russland spielt seine Rolle in der Ukraine und im postsowjetischen Raum insgesamt und genau so wird es wahrgenommen. Aber was weiter? Der Krieg in der Ukraine hat eine Situation geschaffen, in der man aufgehört hat, Russland als eine normale Regionalmacht zu behandeln, sondern als Hooligan – so hat ebenjene Hillary Clinton kürzlich Putin genannt. [Clinton sprach am 18. Januar 2016 von Putin als „bully“ und „somebody who will take as much as he possibly can unless you do“ gesprochen.] Daraufhin hat Russland versucht, einen unkonventionellen Weg zu beschreiten und ist nach Syrien Krieg führen gegangen – als Versuch, zu zeigen, dass es nicht einfach eine Regionalmacht sei, dass es auch in anderen Erdteilen Interessen habe. Das hat aber nicht funktioniert, denn wenn du gegen den internationalen Terrorismus kämpfen willst, dann musst du das nach den westlichen Regeln tun. Zuerst hätte man Assad beseitigen und dann ISIS zerstören müssen. Und all das im Einklang mit den USA. Dann wären die Amerikaner vielleicht bereit gewesen, sich mit Russland sogar in der ukrainischen Frage zu versöhnen. Wenn du aber nach Syrien fliegst und unglückliche syrische Turkmenen bombardierst, dann wird selbstverständlich niemand an die Aufrichtigkeit deiner Absichten im Kampf gegen den Terrorismus glauben und niemand wird mit dir zusammenarbeiten.

Unser Gespräch hinterlässt bei mir ein bedrückendes Gefühl. In einem Ihren letzten Artikel erwähnen sie auf jeden Fall die Emigration der „zurechnungsfähigen Bevölkerung“. Was soll man aber tun, wenn man keine Möglichkeit hat zu emigrieren, auch wenn man noch so „zurechnungsfähig“ ist? Protestieren? Schweigen? Klammheimlich Geld für die Ausreise sparen?

Die Emigration ist eine schwere Wahl. Es bedeutet, dass man sein Haus verkaufen und seine Geschäfte schließen muss. Wenn Menschen sich dazu entschlossen haben, darf man sie nicht verurteilen. Es ist aber sehr traurig, dass Russland solche Menschen verliert, weil das Land gerade diese Menschen braucht, sie sind schließlich bereit, etwas aufzubauen. Deswegen rate ich keineswegs, aus dem Land zu fliehen, aber ich sehe sehr wohl, dass der Emigrationstrend zunimmt, und ich verstehe diese Menschen und respektiere ihre Wahl. Denen, die bleiben, rate ich, besser zu schweigen, weil zurzeit keine objektiven Bedingungen dafür gegeben sind, dass sich etwas verändert, und ich würde zurzeit niemandem raten, etwas zu verändern zu versuchen. Es gibt auch so eine Menge Probleme, wozu soll man sich auch noch zur Verfolgung verdammen?


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