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Akunin, Kasparow, Kaschin und Aschurkow über ein künftiges Russland ohne Putin

Nach dem de facto gescheiterten blutigen Unternehmen in der Ostukraine, der verheerenden, überhasteten Invasion in Syrien und spätestens seit der unrühmlichen Pressekonferenz vom 17. Dezember 2015 scheint das Ende Putins absehbar – zumindest verheißt das die Mehrheit der Morgenluft witternden russischen Opposition. Dieses geistige Klima befördert nun allenthalben Auguren, die verhalten euphorisch eine Zäsur in der russischen Geschichte herbeisehnen und teils kühn, teils bänglich Entwürfe eines künftigen, nach Jahrhunderten erstmals demokratischen Staates unter russischer Flagge entwerfen. Ein „Russland nach Putin“ soll nicht nur mit der Putinära brechen, sondern vielmehr mit einer Kontinuität der Diktatur und des Unrechts, als dessen hoffentlich letzter Auswuchs Putin diagnostiziert wird.

Tamisdat.com stellt im Folgenden die prägnantesten russischen Beiträge und Analysen zu diesem Diskurs in deutscher Übersetzung vor.

Am 22. Dezember 2015 hob Wladimir Aschurkow [Vladimir Ašurkov] das Projekt „Rechtssanierung“ aus der Taufe. In einem siebenköpfigen Gremium wird hier ein Register von Gesetzen erarbeitet, die bei einem Machtwechsel unverzüglich aufgehoben werden müssten.

Aschurkow ist einer der engsten Mitstreiter Alexei Nawalnys, ehemaliger Geschäftsleiter des „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ und einer der Leiter der oppositionellen „Fortschrittspartei“. Nachdem er im Juli 2014 in Russland wegen angeblichen Betrugs zur Fahndung ausgeschrieben worden ist, hat er in Großbritannien politisches Asyl beantragt und lebt dort seither im Exil.

Desweitern gehören dem „Gemeinrat“ des Projekts folgende Personen an:

  • Boris Simin [Boris Zimin], Mäzen, Unternehmer.

  • Jelena Panfilowa [Elena Panfilova], Vizepräsidentin der internationalen Organisation „Transparency International“.

  • Wladimir Pastuchow [Vladimir Pastuchov], Anwalt, Publizist.

  • Pawel Tschikow [Pavel Čikov], Menschenrechtler, Leiter der internationalen Menschenrechtsorganisation AGORA.

  • Irina Jasina, Menschenrechtlerin, Publizistin.

Bislang umfasst das Register zehn der absurdesten, problematischsten Gesetze, die unter der Ägide Putins und insbesondere Federführung von Irina Jarowaja, die als Mitglied der Partei „Einiges Russland“ seit 2011 dem staatlichen „Komitee für Sicherheit und Korruptionsbekämpfung“ vorsteht, eingeführt worden sind.

Der auch hierzulande populäre Krimiautor Boris Akunin hat das Projekt in einem kurzen Statement vorgestellt.

Unmittelbar nach seiner Veröffentlichung entbrannte ein heftiger Streit um den Index, weil die „antiextremistische Gesetzgebung“ Russlands nicht darin aufgenommen worden war. Artikel 282 des russischen Strafgesetzes richtet sich de jure unter anderem gegen die „Erregung von Hass oder Feindschaft, überhaupt die Erniedrigung der menschlichen Würde“. Der massive staatliche Missbrauch dieses Artikels ist breit dokumentiert und auch der Europarat hat schon seine „tiefe Besorgnis“ darüber kundgetan („Expresses its deep concern about the misuse of anti-extremism legislation involving the illegal implementation of criminal laws against civil society organisations such as Memorial and religious minorities such as Jehova’s Witnesses and Falun Dafa and the improper banning of their materials on grounds of extremism.“)

Aschurkow bezog einen Tag nach der Veröffentlichung Stellung dazu und rief die Kritiker auf, ihm Argumente zukommen zu lassen.

Am 2. Januar 2016 prophezeite Garri Kasparow in einer „programmatischen Neujahrsrede“ (Kaschin) auf Facebook dem Russland nach Putin eine „Periode der Reinigung“ und der „antiimperialen Impfung“. In Anlehnung an die Nachkriegszeit in Deutschland und Japan soll die gesamte russische Bevölkerung zur Verantwortung gezogen werden („die Menschen müssen verstehen, dass es einen Preis gibt, den sie bezahlen müssen“).

Da er von Neuwahlen unmittelbar nach Putins Sturz abrät, weil sich so „Tröster“ an die Macht hangelten, die die Kollektivschuld auf Putin abwälzen würden, befürchtete Oleg Kaschin [Oleg Kašin], dass Kasparow sich zu einem russischen Robespierre küren wolle, indem er die „schlechte“ in eine „gute“ Diktatur zu verwandeln plane.

Kaschin zeihte in einem Essay vom 8. Januar 2016 sowohl Aschurkows „Rechtssanierung“ als auch Kasparow „putinscher Züge“ in ihren Programmen: Aschurkow für die Nicht-Aufnahme von Artikel 282, der die Meinungsfreiheit als wichtigstes Grundrecht einschränke, Kasparow für das Monieren einer Kollektivschuld der russischen Bevölkerung, was unangebracht sei, da die Russen weder eine reelle Wahl noch Vorteile vom Regime hätten.

Am 9. Januar 2016 verteidigte Aschurkow sich öffentlich gegen die Vorwürfe Kaschins.

Übersetzung: Tamisdat.com, Januar 2016.

Boris Akunin: Über das Projekt „Rechtssanierung“

22. Dezember 2015.

Quelle: sanatsia.com

Ich habe es endgültig satt, dass alle klagen, lamentieren, sich fürchten und „wie lange noch?“ und „unten hat es geklopft“ wiederholen.

Die Antwort auf die Frage „Wer ist schuld?“ hat man bereits vor langer Zeit für sich gefunden. Schwieriger ist es mit der Antwort auf die Frage „Was tun?“ Und mich persönlich beschäftigt das viel mehr.

Gerade deswegen habe ich eingewilligt, der Besetzung des Gemeinrats des Projekts „Rechtssanierung“ beizutreten. Das Projekt beschäftigt sich mit der zwar nicht großen, aber nützlichen und notwendigen Angelegenheit, eine Rechtsgrundlage für die Rückkehr des Landes in die Normalität vorzubereiten. Das wird nämlich so oder so einmal geschehen.

Das Projekt funktioniert folgendermaßen: Wir, die Mitglieder des Gemeinrates, lesen Gesetze aus, die vom „rasenden Drucker“ beschlossen worden sind – nach dem Gesichtspunkt der Ethik, der Menschenrechte und einfach einer Übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand; für eine Analyse wenden wir uns an Spezialisten; Juristen erstellen dann ein Expertengutachten.

Hier sind die ersten zehn Gesetze, die man aus unserer Sicht in einem neuen demokratischen Russland sofort aufheben werden muss, weil sie schädlich und gefährlich sind.

Wladimir Aschurkow: Über die antiextremistische Gesetzgebung

23. Dezember 2015, 15:45.

Quelle: Facebook.

Es gibt viele Fragen, warum in der ersten Liste von Gesetzen, die im Rahmen der „Rechtssanierung“ zur Aufhebung empfohlen werden, Artikel 282 des Strafgesetzes und andere anti-extremistische Normen nicht enthalten sind.

Zurzeit gehen die Meinungen der Ratsmitglieder auseinander: die einen finden, dass diese Normen gänzlich aufgehoben werden müssen, die anderen, dass sie einer Präzisierung unterliegen und es die Hauptsache ist, ihre Anwendung zu verbessern. Falls ihr eine Meinung darüber habt, was mit diesen Normen in einem erneuerten Russland zu tun ist, erwarten wir eure Argumente über dieses Formular: http://sanatsia.com/obratnaya-svyaz. Wir werden uns bemühen, aus den Argumenten ein Dokument für die öffentliche Diskussion zu erstellen und werden die Mitglieder bitten, sie zu kommentieren.

Garri Kasparow: Russland nach Putin

2. Januar 2015, 13:30, Vilnius, Litauen.

Quelle: Facebook.

Wie die Geschichte zeigt, wird für Diktaturen wie das putinsche Regime der Zusammenbruch des außenpolitisch aggressiven Kurses zum Auslöser für eine Protestexplosion im Innern des Landes. Ich habe bereits gesagt, dass der Verzicht auf das imperiale Konzept die Hauptaufgabe für Russland ist. Uns steht es bevor, das zu tun, was vor 25 Jahren nicht getan worden ist, und zu formulieren, was man sich unter einem Staat mit dem Namen Russland vorzustellen hat. Das Land muss gegen das imperiale Virus geimpft werden und sich endgültig vom Phantomschmerz „verlorener Größe“ befreien. Genau auf diesen imperialen Illusionen spielt das putinsche Regime und sichert sich die Unterstützungen eines bedeutenden Teils der russischen Gesellschaft, obwohl die sozialökonomische Anspannung steigt. Die Menschen müssen endlich einsehen, dass all diese Dinge miteinander verbunden sind. Es ist offensichtlich, dass nach dem Zusammenbruch des putinschen Regimes für Russland eine Periode der „Reinigung“ unabdingbar ist, im Zuge derer die Menschen verstehen müssen, dass sie für alles – für die Unterstützung Putins, für Georgien, für die Krim und für den Donbass – bezahlen müssen. Deutschland und Japan haben einen schauerlichen Preis dafür bezahlt, dass sie den Weltkrieg entfesselt haben, und im Verlauf von 70 Jahren zeigt die empfangene Impfung Wirkung. Unsere Aufgabe ist es nicht, zuzulassen, dass Russland einen ebenso hohen Preis bezahlen muss, aber die Menschen müssen verstehen, dass es einen Preis gibt, den sie bezahlen müssen. Sie müssen sich unangenehme Dinge darüber anhören, was geschehen ist, darüber, dass sie die Verbrechen des Regimes faktisch unterstützt haben. Sie werden gezwungen sein einzugestehen, dass das Land mit ihrer Einwilligung geplündert worden ist, und der Prozess des Wiederaufbaus wird lange andauern – der langen Dauer der Plünderung vergleichbar.

Aus diesem Grund ist es meiner Meinung nach sinnlos, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des putinschen Regimes Wahlen durchzuführen, denn unmittelbar nach Putin werden jene kommen, die versuchen, das Volk zu „trösten“, indem sie die ganze Verantwortung auf den Diktator und sein näheres Umfeld abwälzen: angeblich habe es einige Knicke und unbedeutende Abweichungen von der Gesetzlichkeit gegeben. Das sind aber ganz und gar keine Knicke. Das putinsche Regime ist Erbe eines totalitären Regimes, das die Farbe der Nation vernichtet hat. Das putinsche Regime ist die Fortführung verbrecherischer Tätigkeit einer Organisation unter dem Namen Tscheka-OGPU-NKWD-KGB-FSB. Wir bedürfen nicht nur eines eigenen historischen „Nürnbergs“, in dem die Verbrechen der kommunistischen Diktatur rechtlich bewertet werden, sondern auch realer Strafprozesse gegen die Architekten und Gehilfen des jetzigen Regimes. Es braucht faktisch eine totale Entsowjetisierung und besonders eine DeKGBisierung der Gesellschaft, weil wir mit dem ideologischen Erbe der KPdSU nur mit Müh und Not zurechtgekommen sind. Dass die Willkürherrscher heute im Kreml, in der Duma und anderen Korridoren der Macht sitzen, ist in erster Linie das Resultat davon, dass die KGB-Archive bis heute verschlossen sind.

Oleg Kaschin: Putinsche Züge

8. Januar 2016, 11:00.

Quelle: Radio Swoboda.

Es ist ein so hübsches Paradox im Russland der 2010er Jahre: je weiter sich die Eulenflügel der putinschen Reaktion über Russland ausbreiten, desto finsterer scheint das politische Wesen des Landes, desto klarer wird die Unabwendbarkeit einer in allen Bedeutungen neuen nachputinschen Zukunft. Klar kann es so wie jetzt ganz und gar nicht mehr lange weitergehen und die beinahe absolut gewordene Abhängigkeit der russischen Innen- und Außenpolitik von den persönlichen Eigenschaften und Launen eines einzigen konkreten Wladimir Wladimirowitschs wird auf jeden Fall zusammen mit seiner Macht enden, gleichviel wie sich der Wechsel der Hauptperson gestaltet – revolutionär oder gar systemintern, von Putin an einen von ihm berufenen Nachfolger.

Die gegenwärtigen Generationen von Russen erinnern sich, inwiefern sich das Jahr 1989 von 1984 [das Jahr vor Gorbatschows Wahl zum Parteipräsidenten] oder gar das Jahr 1957 von 1952 [das Jahr vor Stalins Tod] hervorgehoben hat. Fünf Jahre werden vorbeiziehen und die Russen, beladen mit den Sorgen einer neuen Zeit (vollkommen beliebige Sorgen, in einem Spektrum, das vom Bürgerkrieg bis zur Legalisierung von Schwulenehen reicht), nur lachen, wenn sie dessen, was 2015 wichtig geschienen hat, gedenken. Über das nachputinsche Russland lässt sich nur bei Einzelheiten streiten – wann es anbrechen wird und wie es beschaffen sein wird –, sein Anbruch aber scheint bereits jetzt unbestreitbar. Es ist nicht verwunderlich, dass die Versuche, wenigstens die grundlegenden Prinzipien dieses künftigen Russlandsen Prinzipien dieses kn Prinziüien hienen ist, gedenken. sein nasses Fell, mit dem er die Wolfswohnung verschünftigen Russlands zu formulieren, jetzt in Mode kommen und das ist wirklich toll: je mehr Ideen sich jetzt zeigen, desto einfacher wird es danach.

Die mit Putin unzufriedenen Menschen beginnen ein Zukunftsbild zu entwerfen, aber noch fällt ihnen das zu schwer: sie entwerfen ein Russland ohne Putin, aber es kommt Putin heraus. Offensichtlich hat er zu lange geherrscht und sogar die progressivsten Russen wissen einfach nicht mehr, wie ein nichtputinsches Russland aussehen kann.

Das wissen Wladimir Aschurkow und seine Kollegen beim Projekt „Rechtssanierung“ nicht: die schöne Idee ist entstanden, ein Register von Gesetzen zu erstellen, die unverzüglich nach dem Machtwechsel aufgehoben werden müssen. Die Schönheit der Idee ist jedoch schnell über drei einfache Ziffern gestolpert: 282. Es zeigte sich, dass unter den Initiatoren der „Sanierung“ die Idee keine Stimmenmehrheit gewann, die putinsche antiextremistische Gesetzgebung zu verwerfen, als deren Symbol schon seit vielen Jahren der höchst odiöse Artikel 282 des russischen Strafgesetzbuches verharrt, der Gefängnisstrafen für Gedankenverbrechen vorsieht.

Wladimir Aschurkow erklärt, dass die Normen dieses Artikels „einer Präzisierung unterliegen und es die Hauptsache ist, ihre Anwendung zu verbessern“, d.h. man muss nach wie vor für Worte und Reposts einsitzen, es ziemt sich lediglich zu präzisieren, für welche Worte und Reposts genau. Wladimir Aschurkow gebührt natürlich Dank, aber auch in der putinschen Duma sitzen 450 solche „Präzisierer“ und sie kommen mit der Rechtssanierung auch selbst zurecht; wozu Jarowaja durch Aschurkow auswechseln, wenn in der grundlegendsten Frage – der Bestrafung für Worte – zwischen ihnen kein Unterschied besteht?

Nichtsdestotrotz hat der Fall mit der „Rechtssanierung“ die Grenzen eines besonderen Exzesses noch nicht überschritten. Vielleicht werden die Gründer des Projekts diesen Text lesen, sich schämen und die antiextremistische Gesetzgebung trotzdem ihrer Sanierungsliste hinzufügen. Weitaus ernsthafter sieht die programmatische Neujahrsrede von Garri Kasparow aus, der dem nachputinschen Russland eine große „antiimperiale Impfung“ und eine Periode der „Reinigung“ verheißt, im Zuge derer alle Russen verstehen sollen, dass für die Taten Putins alle bezahlen müssen. Für diese Periode schlägt Kasparow vor, auf Wahlen zu verzichten, damit keine „Tröster“ in die Macht einbrechen, die alles auf Putin abwälzen und den Russen helfen werden, sich der kollektiven Verantwortung zu entziehen. Seine Vorschläge formuliert Kasparow vollkommen klar und deutlich, der Leser hat keine Möglichkeit sich zu irren: ja, uns wird nach Putin das Regime einer reinigenden Diktatur verheißen, die, wie es das Konzept des Autors vorsieht, uns zu bereuen und zu bezahlen lehren wird.

Eine ausgezeichnete Idee: ausgezeichnet in dem Sinne, dass gerade so auch proputinsche Agitationsschriften geschrieben werden müssen: indem man den Akzent nicht darauf setzt, was jetzt ist, sondern darauf, dass morgen eine „Periode der Reinigung“ anbricht. Unter anderem unter den überzeugten Anhängern des jetzigen Regimes ist das eine sehr populäre These: Ja, Putin ist mehr als schlimm, aber es besteht das Risiko, dass es ohne Putin noch schlimmer wird. Da tritt Kasparow auf die Bühne und sagt: „Ja ja, es wird auf jeden Fall noch schlimmer. Zweifelt nicht daran, dass ich alles dafür tun werde, damit es noch schlimmer wird.“

Niemand zweifelt im Allgemeinen daran, aber wozu soll man es noch schlimmer machen? Die Verantwortung für Putin auf die Russen zu übertragen ist stalinistische Logik, nach der man jene, die bei den Deutschen in Gefangenschaft waren, in die Lager geschickt hat: Unfreiheit im Austausch gegen Unfreiheit, Unfreiheit im Quadrat, Unfreiheit um der Unfreiheit willen ist sinnlos und eine absurde Grausamkeit. Kasparow scheint es, dass die Russen sie verdienen und es ist sein Recht, so zu denken. Es ist aber das Recht der Russen in einem nachputinschen Russland, die Meinung Garri Kasparows nicht zu beachten, um so mehr als sie es verdient, nicht beachtet zu werden.

Es geht nicht einmal darum, dass der russische Staat trotz dem Grad seiner Scheußlichkeit nicht das Niveau von Deutschland und Japan der Vierzigerjahre, auf welche sich Kasparow bezieht, erreicht hat; wir zappeln noch auf einem lateinamerikanischen Niveau und die Rhetorik im Stile von „Paraguay wird für alles geradestehen“ klingt nicht einmal ungehobelt, sondern komisch. Weitaus wichtiger ist es, dass die Amtszeit Putins in ihren sechzehn Jahren nie das Resultat einer freien Wahl war: Eine einzige konkrete Person hat 1999 Putin als Nachfolger festgelegt und das System der administrativen, propagandistischen und polizeilichen Unterdrückung der Gesellschaft ist in Russland noch in den 90er Jahren installiert worden und bis heute nicht ins Stocken geraten. Sich auf die putinschen Wahlen als einen Beweis für die generelle Unterstützung Putins durch die Russen zu berufen, ist genauso zynisch wie die putinschen „soziologischen Umfragen“ über die Energieversorgung der Krim. Hätte das putinsche System die Russen irgendwie begünstigt (ganz konkret: Wir haben JUKOS geplündert und beteiligen euch jetzt alle, liebe Russen, zu 100 Dollar, oder: Ihr dürft euch am Grund und Boden der Krim beteiligen, jetzt ist die Krim euer!), ergäbe die Erwägung einer kollektiven Schuld noch Sinn, aber so schränkt das System die Freiheit der Russen ein, nimmt ihnen die Wahl, unterdrückt sie. Und dafür müssen die Russen auch noch bezahlen?

Die putinschen und hochputinschen Züge in den Putinkritiken weisen vermutlich darauf hin, dass sie dieselbe Angst beherrscht, wie sie sicherlich auch Putin hat: die Angst, die Macht zu verlieren, die Angst, sich einem unkontrollierbaren politischen Prozess zu stellen. Die Verlockung, eine „schlechte“ Diktatur gegen eine „gute“ einzutauschen, ist gleichzeitig sowohl Idealismus als auch Niederträchtigkeit. Es gibt keine guten Diktaturen und selbst wenn sich Garri Kasparow selbst an die Spitze der „Reinigung“ stellen wird, werden wir uns sehr bald, wie es schon geschehen ist, unter der Macht seiner von niemandem gewählten und niemandem rechenschaftspflichtigen Schutzmänner, Verwandten und Trainer wiederfinden – und wenn sich im Parlament Amateure daran machen werden, die putinschen Gesetze zu „präzisieren“ und zu „verbessern“, dann wird auch ein solches Parlament nicht weniger ein „rasender Drucker“ als dasjenige, welches wir jetzt kennen, sein. Wenn das Zukunftsbild bei den russischen Oppositionellen auf das Bild eines „liberalen Putins“ hinausläuft, das sich nur in Einzelheiten von demjenigen Putins, wie es jetzt ist, unterscheiden soll, dann ist ja wirklich der jetzige Putin besser und möge bleiben, wozu brauchen wir einen neuen?

Die Zukunft ist gerade dafür Zukunft, um nicht die odiösesten und unheilvollsten Merkmale der Gegenwart in sie miteinzuschleppen. Eine Opposition, die die Demokratie fürchtet, das Volk fürchtet, ist eine schlechte, unbrauchbare Opposition. Ersinnt man ein Zukunftsbild für Russland, lohnt es sich nicht, mit Schlupflöchern zu beginnen, die es erlauben, die Macht genauso innezuhaben, wie sie jetzt Putin innehat.

Wladimir Aschurkow: Antwort an Oleg Kaschin

9. Januar, 11:32.

Quelle: Facebook.

Oleg Kaschin hat eine Kolumne geschrieben, in der er unser Projekt „Rechtssanierung“ dafür kritisiert, dass in der Liste der ersten 10 Gesetze, die von seinem Gemeinschaftsrat geprüft und zur unverzüglichen Aufhebung empfohlen worden sind, die antiextremistische Gesetzgebung nicht aufgenommen worden ist. Ich möchte aus diesem Anlass ein paar Gedanken aussprechen.

Unser Projekt wird von einem Gemeinschaftsrat geleitet, der aus sieben Personen besteht, die über ein seriöses Ansehen verfügen. Auch wenn unser Reglement vorschreibt, dass es für die Beschlussannahme einer qualifizierten Mehrheit bedarf, bemühen wir uns, alle Beschlüsse im Konsens oder, einfacher gesagt, einstimmig zu treffen. Dieser Mechanismus soll die Ausgewogenheit und Objektivität unserer Beschlüsse sicherstellen: wenn sich alle im Rat einer Meinung sind, so muss man das Gesetz gewiss aufheben, d.h. ein solcher Beschluss hat mehr Chancen, auf politischem Parkett in die Tat umgesetzt zu werden. In diesem Sinne dienen die verschiedenen Meinungen der Ratsmitglieder als Indikator für die öffentliche Meinung in unser Situation, wo Wahlen leider keinen solchen Indikator darstellen.

Als wir die Liste der ersten zehn Gesetze zur Prüfung festsetzten, ging es auch um Artikel 282. Während wir jedoch bei den Gesetzen, die unter den ersten zehn aufgenommen wurden, zu einem Konsens fanden, waren die Meinungen bei der Frage der Aufhebung [von Artikel 282] gespalten. Deshalb beschlossen wir, uns zunächst auf die Gesetze zu fokussieren, bei denen es keine Meinungsverschiedenheiten gab. Die Polemik, die sich im öffentlichen Bereich um die Aufnahme der antiextremistischen Gesetzgebung im Register von „Rechtssanierung“ entfaltet hat, regt uns bedingungslos an, sie jetzt vorrangig zu prüfen, womit wir uns auch demnächst befassen werden.

Man muss verstehen, dass diese Gesetzgebung kompliziert ist und aus vier Artikeln mit Unterabschnitten besteht. Wir sind gewillt, diese Problematik unter Einbeziehung erfahrener Experten seriös zu analysieren und uns nicht vom Prinzip „Ich selbst habe es zwar nicht gelesen, verurteile es aber“ leiten zu lassen. Wir wissen, dass die Rechtsprechungspraxis bei diesen Gesetzen entsetzlich ist, aber bei uns in Russland ist die Anwendungspraxis bei der Mehrheit der anderen Gesetze zurzeit nicht minder entsetzlich. Wir werden die Arbeit ausgewogen und ohne Hysterie fortsetzen.

Für mich ist einer der Züge des putinschen Regimes die Verabschiedung von individuellen Beschlüssen. Um uns davon zu befreien, haben wir den Rat gegründet und orientieren uns am Konsens in selbigem. Ein anderer Zug ist die Verabschiedung ohne gebührende Besprechung von schnellen, kaum durchdachten Beschlüssen auf der Grundlage plakativer, populistischer moralischer Maximen, zum Beispiel dass „russische Kinder in Russland erzogen werden müssen“ oder „man keine sexuellen Beziehungen, die von traditionellen abweichen, propagieren darf“. Zur Kategorie solcher Maximen gehört auch die These, dass „man Gedankenverbrechen nicht bestrafen darf“, auch wenn Sinn und Aufgabe der antiextremistischen Gesetzgebung überhaupt nicht darin besteht, wenn man sie von ihrer von uns wahrgenommenen derzeitigen Anwendung abstrahiert. Zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich nicht, wie die Prüfung der antiextremistischen Gesetzgebung in unserem Rat ausgehen wird – ob die Empfehlung, sie gänzlich oder vielleicht einige ihrer Normen aufzuheben, die hohe Schwelle des allgemeinen Konsens überwinden wird. Ich trete für die Entwicklung gesetzlicher Institutionen und die nötigen Prozeduren ein und versuche, diese Prinzipien in der Arbeit unseres Rates zu verwirklichen. Im Vergleich zum putinschen „rasenden Drucker“ ist mir der gesetzgebende Prozess in England, wohin ich nach dem Willen des Schicksals geraten bin, weitaus näher. Er ist durch die öffentliche Erörterung, die Schreibung verschiedener Arten von Berichten, Untersuchungen und „Whitepapers“, bevor ein wichtiger Beschluss gefällt wird, charakterisiert. Bei komplizierten Fragen wie dieser werden auch wir uns bemühen, es so zu tun. Diesbezüglich scheint es mir ein wenig fehl am Platz, uns putinscher Züge zu beschuldigen.

Ich danke Oleg dafür, dass er sich in die Diskussion anlässlich [des Projekts] „Rechtssanierung“ und der Resultate seiner Arbeit eingebracht hat. Eine so breite Erörterung bedeutet, dass das Projekt eine wichtige gesellschaftliche Institution werden kann, was ich mir auch erhofft habe, als ich es ersonnen habe. Ich möchte nur von der Position eines „moralischen Absolutismus“ warnen, die in seinem Artikel durchschimmert: das Prinzip „wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns“. Menschen können verschiedene Meinungen darüber, was Ihnen offensichtlich erscheint, haben und können sich auch irren. Diejenigen, die jetzt versuchen, das Ende des gegenwärtigen Regimes herbeizuführen und denen es bevorsteht, Russland auf neuen Prinzipien aufzubauen, werden offensichtlich ein sehr breites Spektrum von Ansichten aufweisen und anfällig für Fehler sein. Es gibt keine anderen Menschen. Ihre Fehler zu kritisieren, sie in der Hauptsache aber zu unterstützen, ist meiner Ansicht nach das richtige Rezept, um aus dem Schatten der „Eulenflügel des putinschen Regimes“ herauszutreten.


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