Zum Gedenken an Wlad Kolesnikow (1997-2015)
Am 25. Dezember 2015 hat sich der achtzehnjährige Russe Wladimir "Wlad" Kolesnikow das Leben genommen. Er war den staatlich orchestrierten Nachstellungen und Verleumdungen nicht mehr gewachsen, die sein Leben bestimmten, seit er sich öffentlich gegen den Ukrainekrieg ausgesprochen hatte.
Den Nachruf von Xenia Kirillowa finden sie hier.
Die Journalistin Claire Bigg stand bis kurz vor seinem Tod mit Kolesnikow in Kontakt. Sie veröffentlichte am 27. Dezember 2015 einen Artikel über die Tragödie.
englische Version: "How My Friend, Vlad Kolesnikov, Was Driven To His Death In Putin's Russia".
russische Version: "Как довели до смерти Влада Колесникова".
Ein halbes Jahr vor seinem Tod hat er Dmitri Woltschek von „Radio Swoboda“ ein eindrückliches Interview gegeben, in dem er von seinem Martyrium berichtet und welches hier erstmals übersetzt vorliegt.
Quelle: "В военкомате я включил гимн Украины" (Dmitrij Volček, 10. Juni 2015, 21:19).
Übersetzung: tamisdat.com, Dezember 2015.
„Im Militärkommissariat habe ich die ukrainische Hymne angeschaltet“
Der 17-jährige Wlad Kolesnikow erzählt, wie er sich entschieden hat, gegen die Putinsche Propaganda anzukämpfen.
Wlad Kolesnikow, einem 17-jährigen Technikumschüler aus Podolsk [Podol’sk, Großstadt in der Oblast Moskau, ca. 190'000 Einw.] schreiben hunderte Menschen. Sie bieten Hilfe und Obdach an, bedanken sich und raten ihm, vorsichtiger zu sein. „Ich kann diese Emotionen, die ich beim Lesen von Facebook empfinde, mit Worten nicht ausdrücken“, sagt Wlad und seine Stimme bebt vor Aufregung. „Ich erfahre dort so viel Unterstützung von mir unbekannten Menschen, es ist einfach unglaublich.“
Wlad hat im Internet eine Menge Freunde gefunden, allerdings hat ihn sein leiblicher Großvater, ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter, verdammt; im Technikum, wo er studiert hat, ist man mit Fäusten auf ihn losgegangen (Wlad bittet darum, nicht zu schreiben, dass man ihn verprügelt habe: „es sind nur eine zerschlagene Lippe, ein paar blaue Flecken, ein Paar Schläge auf den Kopf und drei Blutstropfen“) und jetzt hat sich die Polizei für ihn zu interessieren begonnen.
Und das alles, weil Wlad Kolesnikow nicht nur seine politischen Ansichten nicht verbirgt, sondern sich auch entschlossen hat, sie öffentlich mitzuteilen.
„Putin sitzt zusammen mit seinem Viehstall von Verbrechern da und hat das Land mithilfe einer mächtigen Propaganda in der Hand. Das ist meine subjektive Meinung. Vielleicht irre ich mich. Ich glaube aber nicht, dass das wahrscheinlich ist“, sagt Wlad. „Wissen Sie, die russischen Medien propagieren aktiv ein Feindbild in Form von ‚Chochly’ [Sg. chochol, abschätzige russische Bezeichnung für die Ukrainer] und ‚Pindosy’ [Sg. pindos, abschätzige russische Bezeichnung für die Amerikaner]. Ich habe all das auch unterstützt, bis ich ein Video auf YouTube gesehen habe. Das war im Jahr 2014 und ich werde es wahrscheinlich nie vergessen, weil dieses Video mein Leben sozusagen völlig verändert hat. Es ist ein Video mit ganz banalem Inhalt: einfach eine amerikanische Familie, eine russische Ehefrau, der Ehemann ist Amerikaner, er gibt ihr ein Geschenk, sie fahren zu einer Schießbude. Anstelle von dem, was bei uns propagiert wird – ein faschistisches Regime, alle sind verrückt nach Sex und Geld, alle verraten einander –, sah ich Menschen, wie auch ich einer bin. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie mehr lächelten. Und von da an begann ich tiefer zu wühlen, andere Informationen anzuschauen, westliche Presse zu lesen. Von da an verstand ich, dass sich unsere Medien in vielem irren, das sie übertreiben und in den meisten Fällen einfach dreist lügen.“
Haben Sie mit den Verwandten ein schwieriges Verhältnis, gerade weil sie Ihre Ansichten nicht teilen?
Ja. Nicht nur mit den Verwandten, sondern sozusagen mit allen Menschen. Ich kenne nur zwei Menschen, die meine Ansichten mehr oder weniger teilen: meinen Freund Nikolai Podgornow [Nikolaj Podgornov] und noch einen Menschen, dessen Namen ich nicht sagen werde. Alle Menschen, die ich kenne, meine Schule und meine ganze Verwandtschaft sind aber dagegen. Es gibt nur mich und Nikolai.
Haben sie zusammen mit Nikolai beschlossen, in Podolsk ein Plakat mit der Aufschrift „Zum Teufel [russ. chuj ‚Penis’] mit dem Krieg“ aufzuhängen?
Ja. Ich habe aber damit begonnen, dass ich im Militärkommissariat gesagt habe, ich wolle nicht dienen und gegen meine Brüder kämpfen. Vielleicht klingt das pathetisch, aber so ist es auch. Wir haben beschlossen, dass wir das nicht mehr dulden und alles offen zum Ausdruck bringen werden. Zu Beginn wollten wir das Plakat in Moskau aufhängen, dachten aber, dass man es schnell wieder abreißen würde. Deswegen suchten wir einen geeigneten Ort in Podolsk. Wir waren lange unterwegs, fanden im Stadtzentrum ein Haus mit offenem Dach und beschlossen, es dorthin zu hängen. Wir gingen in ein Strickwarengeschäft, kauften einen fünf Meter langen Fetzen aus gelbem Stoff und kauften Farbe. Das alles war teuer für einen Studenten, lohnte sich aber. Wir brauchten die ganze Nacht, um das Plakat, auf dem Dach sitzend, zu machen. Damit es ein wenig länger hängen würde, befestigten wir es mit Drahtseilen und verschlossen die Türe mit einem Schloss, damit die Polizei ein wenig länger nicht dorthin gelangen konnte: man würde die Leute vom Zivilschutz herbeirufen. Ich denke, wir gewannen zwei oder drei Stunden gegen sie.
Haben Sie im Militärkommissariat gleich gesagt, dass sie nicht Krieg führen wollen?
Ich sehe nicht sehr gut, deswegen bin ich für den Truppendienst sowieso nicht tauglich. Die medizinische Kommission hatte ich hinter mir und musste nun zur Musterungskommission: dort stehen Tische in Hufeisenform [russ. „wie der Buchstabe П (P)“] und hinter den Tischen sitzen Leute, die einen mustern. Ich hatte die ukrainische Hymne auf dem Handy aufgezeichnet. Die russische Hymne gefällt mir nicht, weil ich sie für verlogen halte. Alles, was dort über Freiheit usw. gesagt wird, ist einfach vollkommener Stuss. Vor dem Eingang entschloss ich mich, die ukrainische Hymne anzuschalten, weil ich die russische Armee nicht unterstütze und es für eine Schande halte, in ihr zu dienen. Deswegen schaltete ich die ukrainische Hymne an und sagte: „Jungs, ich ziehe nicht mit der russischen Armee in den Krieg!“
Wlad, Sie sind wirklich ein sehr ungewöhnlicher junger Mann. Sie sind immun gegen Propaganda und auch noch furchtlos...
Ich hatte tatsächlich Glück: ich hatte einfach eine bestimmte Zeit lang keinen Fernseher und all diese Nachrichten nicht gesehen. Als ein Fernseher auftauchte, habe ich ihn angeschaltet und sah diesen Unsinn, der dort vonstatten geht. Ich geriet ausgerechnet in die Sendung, in der Kiseljow [Dmitrij Kiselev] wütend forderte, dass man die Herzen von Schwulen verbrennen müsse. [Die vollständige Aussage des für seine homophoben Äußerungen über die russischen Grenzen hinaus bekannten Journalisten lautet: ‚Man muss ihre (i.e. der Schwulen) Herzen in der Erde verscharren oder als für die Weiterführung des Lebens unbrauchbar verbrennen.’ Kiseljow hat das am 4. April 2012 in der Sendung ‚Historischer Vorgang’ des staatlichen Fernsehsenders ‚Rossija 1’ gesagt.] Ich saß da und dachte: ist das eine humoristische Comedy Show? Dann begriff ich, dass das die neuen Nachrichten in Russland waren. Es ist krass, einfach ganz nach den Propagandaprinzipien von Goebbels: wir seien von Feinden umzingelt, die das Land besetzt haben. So ein Schwachsinn.
Also, Sie haben im Militärkommissariat die ukrainische Hymne angeschaltet. Die Mitglieder der Musterungskommission sind wahrscheinlich ausgerastet, als sie das gehört haben?
Das war unglaublich. Einige Leute erstarrten, andere sprangen auf und brüllten: „Was treibst du da? Weißt du, wo du dich befindest?“ Nach einiger Zeit eilte ein Mann herbei, zerrte mich in ein Einzelzimmer und legte zwei Akten vor mich hin. Auf der einen stand, dass ich Probleme mit dem Sehvermögen habe, auf dem anderen stand aber: Persönlichkeitsstörung und noch etwas. Kurz gesagt, im Militärkommissariat wurde ich für verrückt erklärt, weil ich mit der ukrainischen Hymne vorbeigekommen war und meine Meinung geäußert hatte. Das war der Wendepunkt. Als diese Akte vor mich hingelegt wurde, verstand ich, dass ich das nicht mehr aushalte: ich war nur vorbeikommen und wurde gleich für verrückt erklärt.
Ihre letzte Heldentat: Sie sind in einem T-Shirt mit der ukrainischen Flagge [und der Aufschrift „Krim zurückgeben“] zur Schule gegangen...
Ja. Ich habe auch früher meine politischen Ansichten in der Schule kundgetan und sehr häufig mit den Lehrern darüber gestritten. Sie können sich ja denken, dass nichts Gutes dabei herausgekommen ist, aber auch nichts Superschlechtes, außer dass die Noten tiefer wurden und solche Kleinigkeiten. Damals wurde es aber schon amüsanter: Bei der Schule traf ich gleich den Klassenlehrer – sie heißen bei uns „Berufsmeister“. Wissen Sie, ich werde diesen Blick nie vergessen: er schaut mich zuerst wie einen normalen, adäquaten Menschen an, sieht dann, was auf meinem T-Shirt ist, hebt den Blick und ich sehe einen solchen Hass! Ich gehe hinauf, betrete das Klassenzimmer, nach fünf Minuten drehen sich die Leute, die vor mir sitzen, zu mir um (ich sitze zuhinterst) und sagen: „Kolesnikow, willst du gleich eine auf die Fresse oder später?“ Na, versucht’s! Ihre Versprechen haben sie, wie Sie sehen, gehalten, aber nicht am selben Tag, sondern ein paar Tage später, nach meinen Posts, als sie viel Interessantes über sich gehört haben. Ich kann meine Position argumentativ verteidigen, warum ich der Ansicht bin, dass die Krim annektiert worden ist, warum der Donbass annektiert worden ist, ich habe Belege, ich habe Fakten, ich kennen Leute, die dort gedient haben. Im TV sagen sie: es gibt dort keine Soldaten von uns. In Tat und Wahrheit verhält es sich natürlich anders. Sie hatten keine überzeugenden Argumente, alles lief darauf hinaus, dass ich eine Schande für das Land bin und die Flagge weg muss. Natürlich ist die Politik interessant: es zeigt sich, dass das Kundtun seiner Meinung eine Schande für das Land ist.
Wlad Kolesnikow wurde gezwungen, sowohl die Schule (er wurde augenblicklich exmatrikuliert) als auch Podolsk zu verlassen. Der Großvater, bei dem er gewohnt hatte, teilt seine politischen Ansichten auch nicht und hat den Enkel zum Vater nach Schiguljowsk [Žigulevsk, Stadt in der Oblast Samara, ca. 55'000 Einw.] geschickt. Gerade neulich rief Wlad den Grossvater an, um ihm zu sagen, dass er gut angekommen sei, und erfuhr eine beunruhigende Nachricht: zwei Männer von der Polizei waren gekommen und hatten gefragt, woher er die ukrainische Flagge herhabe und wo sein T-Shirt jetzt sei.
„In Russland sind alle Demokraten in die Verbannung geschickt worden. So fühle auch ich mich: wie in der Verbannung. Mir raten gerade viele, nach Kiew zu gehen. Das ist aber die letzte Variante. Wenn jemand meint, dass ich mich jetzt hinsetzen, einen Auslandpass erstellen und in die Ukraine gehen werde und damit alles vorbei sein wird, irrt er sich. Vorläufig plane ich, von Schiguljowsk nach Moskau zurückzukehren und ein paar Proteststreikposten einzurichten“, verspricht der furchtlose Wlad Kolesnikow.